Der Bundesgerichtshof hat mit Urteil vom 29.06.2022 – IV ZR 110/21 – folgende wegweisendes Urteil erlassen:
Der Erblasser, welcher britischer Staatsangehöriger war, lebte bereits seit 1965 in Deutschland. Im Jahr 1974 adoptierte er den Kläger. Im notariellen Testament vom März 2015 setzte er die Beklagte als Alleinerbin ein und widerrief alle vorab von ihm errichteten Verfügungen von Todeswegen und wählte für seine Rechtsnachfolge von Todes wegen sein englisches Heimatrecht. Der Nachlass des Erblassers bestand aus seiner in Deutschland belegenen Immobilie sowie weiteren diversen Gegenstände.
Es war jetzt strittig, ob der Kläger einen Pflichtteilsanspruch gegenüber der Beklagten und demnach ein Auskunftsrecht hat.
Der Bundesgerichtshof bestätigt in Abkehr seiner bisherigen Rechtsprechung einen Pflichtteilsanspruch des Klägers.
Im Urteil wird mitgeteilt, dass gem. § 22 I EuErbVO der Erblasser das Recht seiner Staatsangehörigkeit, demnach das englische Recht wählen konnte. Allerdings verstößt nach dem Bundesgerichtshof die Rechtswahl mit dem deutschen ordre public, da es mit diesem offensichtlich unvereinbar ist. Ein Verstoß gegen den sogenannten ordre public liegt dann vor, wenn das Ergebnis der Anwendung des ausländischen Rechts im Einzelfall zu den Grundgedanken der nationalen Regelungen und den in ihnen enthaltenen Gerechtigkeitsvorstellungen in so starkem Widerspruch steht, dass es nach inländischer Vorstellung schlichtweg untragbar erscheint.
Nach diesem Maßstab liegt laut Bundesgerichtshof hier ein offensichtlicher Verstoß gegen den deutschen ordre public vor. Das Pflichtteilsrecht ist als Institutionsgarantie dem Bestand des deutschen ordre public zuzurechnen. Es garantiert den Kindern eine grundsätzlich unentziehbare und bedarfsunabhängige wirtschaftliche Mindestbeteiligung am Nachlass des Erblassers. Dies wird aus der Familiensolidarität und der hieraus abgeleiteten familienschützenden Funktion des Pflichtteilsrechts abgeleitet.
Das englische Recht kennt dem gegenüber keine bedarfsunabhängigen und nach festen Quoten berechneten Anspruch eines Abkömmlings nach dem Tode des Erblassers. Ein Pflichtteilsrecht wie es der deutschen Rechtsordnung entspricht, ist im englischen Recht fremd. Auch die in Inheritance Act von 1975 ist nur eine bedarfsabhängige finanzielle Beteiligung am Nachlass des Erblassers für den Abkömmling, was hier nicht vorliegt.
Nach dem Bundesgerichtshof ist auch entscheidend, dass im zu beurteilenden Sachverhalt ein hinreichend starker Inlandsbezug vorliegt. Dies wird durch den Bundesgerichtshof damit begründet, dass die zu schützende Familienbeziehung des Erblassers ihren Mittelpunkt in Deutschland hatten. Sowohl der Kläger als auch der Erblasser haben bzw. hatten ihren gewöhnlichen Aufenthalt zum Zeitpunkt des Erbfalls in Deutschland, der Erblasser bereits mehr als 50 Jahren. In Deutschland befindet sich auch das Erblasservermögen. Weiter besitzt der Kläger auch die deutsche Staatsangehörigkeit.
Ein völlig überraschendes Ergebnis der Prüfung des ordre public Verstoßes seitens des Bundesgerichtshofs. Allerdings ist zu beachten, dass im vorliegenden Fall der Bundesgerichtshof den Urteilsausspruch davon abhängig gemacht hat, dass ein hinreichend starker Inlandsbezug vorlag. Im vorliegenden Fall lebte der Erblasser seit über 50 Jahren in Deutschland, der Kläger lebt in Deutschland und das Vermögen des Erblassers war in Deutschland. Es bleibt jetzt abzuwarten, wie der Bundesgerichtshof entscheiden würde, wenn diese drei kumulativ vorliegenden Voraussetzungen in einem anderen Fall nicht vorliegen.
Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshof ist jetzt selbstverständlich auch für anderen Länder zu beachten, welche keinen Pflichtteilsanspruch kennen. Dies gilt beispielsweise für den US-Bundesstaat Florida. Für die Praxis bedeutet dies, dass viele Testamente von britischen Staatsangehörigen, die in Deutschland leben, und die eine Rechtswahl für das englische Recht vorgenommen haben, überprüft werden müssen.
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